Unentrinnbar klaustrophob. Und zwar als Unternehmer. Nicht Mathematikmaturant, nein, Unternehmer. Höchststrafe. Kafka! Ein Albdruck, der mich erbarmungslos mit der disruptiven Entwertung meines unternehmerischen Weltbildes konfrontiert, das mich bislang verlässlich über alle konjunkturellen und betriebswirtschaftlichen Untiefen hinweggetragen hat. Peng! Alle Gewissheiten haben sich in ihr Gegenteil verkehrt: „Dein unternehmerisches Imperium“, brüllt das unsichtbare Schwurgericht in mir, „ist nicht auf Sand gebaut, sondern – viel schlimmer! – auf Leidenschaft. Auf deine Leidenschaft und die Leidenschaften deiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.“ Panik! Schlagartig ist mir klar, dass das Fundament meines Erfolges zerbröselt, wie der Sand am Strand von Bibione zwischen den Fingern zerrinnt.
„Du präferierst“, höhnt es in mir, „Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die leidenschaftlich sind und für die Sache brennen. Für deine Sache, du Dolm, wie kommst du auf so eine Idee?! Vor versammelter Belegschaft bei stimmungsvollen Anlässen, bei Ehrungen und Firmenfeiern gibst du in eindringlichen Worten Sätze von dir wie: Leidenschaft, Leidenschaft, Leidenschaft – auf die Leidenschaft kommt es an. Bei uns können Sie Ihre Leidenschaft leben. Irrwitz! Und wie gerührt du bist, wenn deine Leute beflissen nicken.“
Wie in einer Urananreicherungszentrifuge schwirren die Fetzen meiner unternehmerischen Identität immer rasender und rasender durch mein Hirn, bloß mit dem gegenteiligen Effekt: Auch die letzten Bruchstücke lösen sich auf. Das Idealbild meines Unternehmens als eines energetischen Druckkessels, in dem sich Leidenschaften zu höherer Energie verdichten, innovativ, dynamisch, selbstbewusst, mutig, unwiderstehlich, rast mit aberwitziger Geschwindigkeit auf ein alle vermeintlichen Gewissheiten aufsaugendes nihilistisches Loch zu. Die Wirklichkeitskommission in mir deklamiert jetzt emotionslos abgehackt wie eine schlecht geölte Computerstimme aus einem Science-Fiction-Film der 1980er: „Du sogenannter selbsternannter Entrepreneur, du schließt von einem mutmaßlich idealisierten Selbstbild, also von dir, wie du dich gerne sehen würdest, auf andere. Du läufst Gefahr, diese Projektion einer leidenschaftsgetriebenen persönlichen Businessleitkultur für bare Münze zu nehmen. Glaubst du wirklich, dass die Leidenschaft, die dir im Assessment-Center entgegenschlägt, authentisch ist? Wenn du die Wahrheit wissen willst, dann schließe Bewerberinnen und Bewerber an einen Lügendetektor an. Es gilt die Unschuldsvermutung.“
Immer noch im Traum lande ich in einem Schock-Workshop zur Selbstreinkarnation von Unternehmerinnen und Unternehmern, die sich hoffnungslos in den doppelten Böden geträumter Albträume verloren haben. Auch dort lamentiert eine löchrige Computerstimme: „Du weißt um die begrenzte Verfügbarkeit von Fachkräften und High Potentials. Du bist dir des Weiteren auch darüber im Klaren, dass nur ein relativ bescheidener Anteil der Menschen über eine sich vorwiegend auf die berufliche Tätigkeit beziehende intrinsische Höchstmotivation, sprich tabulose Leidenschaft, verfügt. Du bist auch mit der chemischen Gesetzmäßigkeit vertraut, dass auf kurz oder lang verbrennt, was brennt. Anders ausgedrückt: Es entsteht zwar Energie, aber auf Kosten der Substanz. Auch auf psychische Energiequellen bezogen sprechen wir in diesem Kontext vom Ausbrennen, du Knallkopf. Bei manchen mag das Feuer länger lodern, bei anderen verlischt die Flamme rasch. Wach auf!“
Als ich aus dem Traum, in dem ich albtraumhaft geträumt hatte, dass ich als Unternehmer aus einem Traum erwacht war, endlich mit Evidenz wirklich erwacht war, fühlte ich mich weder wie ein Unternehmer noch wie eine Uranzentrifuge, sondern wie die innerste von mindestens sieben ineinandergesteckten russischen Matrjoschka-Puppen und begann mich in dieser seelischen Einschicht unverzüglich auf das Leitthema dieser Ausgabe einzubrüten: Leidenschaft, Passion, Hingabe.
Neulich wurde ich bei einer abendlichen Champignons-League-Übertragung (übrigens keine Leidenschaft, sondern lieb gewonnene Entspannungsübung) vom Kommentator nachdrücklich auf das Verhalten des – wie er auch nicht müde wurde zu betonen: argentinischen (Tango ist Leidenschaft!) – Trainers von Atletico Madrid, Diego Simeone, hingewiesen. Auch die Regie ergriff zahlreiche Gelegenheiten, um den „emotionalen“ bzw. „leidenschaftlichen“ Startrainer ins Bild zu rücken. In der Tat bietet Simone das Bild eines in der schwarzen Pädagogik noch im 20. Jahrhundert häufig apostrophierten Rumpelstilzchens, dermaßen hochemotional, dass man geneigt ist, sich um seine Gesundheit zu sorgen. Ist das Leidenschaft, Passion, Hingabe, Begeisterung, Feuereifer, um hier gleich ein paar synonym bzw. bedeutungsähnlich verwendete Begriffe aneinanderzureihen? Oder ist es – ja, was eigentlich? Eine überzeugend und in diesem Sinne hochprofessionell dargebotene Gefühlschoreografie etwa, um sich selbst, den Spielern, dem Publikum, der Fußballwelt das Bild einer bis in die letzten Fasern seines Körpers und die entlegensten Rayons seines Willens von Fußballleidenschaft und Siegeslust durchdrungenen Mannes zu vermitteln; eine Art Masken- und Markenbildungsprozess: Arbeit an der lebenden Legende.
Heißt es nicht, der Fußball lebe von Leidenschaft? Der Leidenschaft der Fans, der Spieler, der Trainer. Diego Simeone lebt diese Leidenschaft im Traineramt von Atletico Madrid seit 2011, seit für den modernen Spitzenfußball unfassbaren 13 Jahren. Lebt er sie? Oder spielt, verkörpert er sie nur? Ein Leidenschaftsdarsteller auf dem Höhepunkt seiner Kunst. Und – mit Verlaub – spielt das denn überhaupt eine Rolle? Wäre nicht beides geradezu heroisch, um nicht zu sagen übermenschlich? Bei einer gefühlten Traineramtshalbwertszeit von – sagen wir – ein, zwei, gelegentlich vielleicht auch drei Jahren. Die Zeit, nach der ein Trainer seine Mannschaft nicht mehr „erreicht“. Und dann ist er weg. Diego Simeone – eine Ausnahmeerscheinung, verglichen selbst mit dem zweiten großen Leidenschaftlichen des Weltfußballs, Jürgen Klopp. Und jetzt kommt Xavi Alonso. Mal sehen. Ein Schelm, wer glaubt, dass hinter derlei Leidenschaftlichkeit nichts steckt als pure Leidenschaft. Denn das würde bedeuten: Abstiegsgefahr!
Verlassen wir das Fußballfeld. Vor allem hinter den Zäunen randstädtischer Refugien mit ihren von gepflegtem Idyll umgebenen Einfamilienhäusern präsentiert sich das Leben nicht selten in seiner elementarsten Logik. Im Vorbeigehen gelingt es bisweilen, an den großen Fragen des Lebens teilzuhaben. In diesem Fall waren es zwei neunmalkluge Burschen, mögen sie neun oder zehn Jahre alt gewesen sein. Sie befanden sich offenbar mitten in einem philosophischen Diskurs. Nur die Aussage des einen drang an mein Ohr: „Ich frage mich, warum man überhaupt einen Rekord aufstellen will.“ Ja, warum eigentlich?
War ich Zeuge der Geburt einer neuen Generation geworden? Generation PP – post Passion. Vernahm ich den Quelltext eines postleidenschaftlichen Zeitalters; einer neue Ära der Sachlichkeit, gespeist aus zurückgelehnter Genügsamkeit, in der Leidenschaftsabstinenz als Adelsprädikat gilt. Mit der Leitfrage: Bitte, wozu? Sine ira et studio, wie schon Tacitus für sich in Anspruch nahm.
Ein leidenschaftlicher (Großwild-)Jäger zu sein, bedeutet etwas anderes, als den passionierten Jäger zu geben, oder erklingt die Differenz bloß in meinen Ohren? Wohingegen die Substantive „Leidenschaft“, „Passion“ und „Hingabe“ weitgehend synonym auftreten. Ein „passionierter“ Autofahrer lenkt sein Fahrzeug geschmeidig um die Kurve, während ein „leidenschaftlicher“ Automobilist Tempolimits tendenziell als unbotmäßige Eingriffe in seine persönliche Freiheit betrachtet. Wahre Lenkleidenschaft wird via L17-Tafel (L für Leidenschaft!) direkt und ungefiltert an die Nachkommen weitergegeben. Testosteron – das Leidenschaftshormon, mittlerweile auch über Geschlechtergrenzen hinweg. Doch bei all den feinen Distinktionen in der Bedeutung: Haftet der allgegenwärtigen Leidenschaftlichkeit nicht etwas Grundbeliebiges an?
Alles angezündet. Überall lodert, glüht und brennt es – vor Leidenschaft. Einst Hobby, Freizeitbeschäftigung, sportliche Betätigung – nunmehr lodernde Leidenschaft: vom Hochseesegeln bis zum Papierfliegerfalten. Und fast noch erstaunlicher: Auch die berufliche Pflicht gerät zusehends zur leidenschaftlichen Kür. Ostentative Leidenschaft nicht nur als Marketingtool für die eigenen Zwecke, sondern als Währung der Selbstvergewisserung und Selbstermächtigung im allgegenwärtigen Wettbewerb. So begegnen wir schon mal jungen Leuten, die sich im Überschwang der unternehmerischen Gefühle als Entrepreneurs und Seriengründer aus Leidenschaft zu erkennen geben, obwohl sie zum Beispiel trotz erfolgreicher Finanzierungsrunden erst zwei Start-ups in den Sand gesetzt haben, was nach Start-up-Maßstäben noch gar nichts ist; um sich sodann – nach diesen zwei unfreiwilligen Exits zu leidenschaftliche Mitgliedern der Start-up-Community auf Lebenszeit selbsternannt – als Gründungsnetzwerker (für Business Angels reicht die Kapitalausstattung noch nicht) empathisch einzubringen und der nächsten Generation leidenschaftlicher Start-upper den Weg Richtung Exit zu weisen.
Nein, niemand will Ihnen Ihre Leidenschaften madig machen; nicht die geheimen, nicht die obsessiven und schon gar nicht die sittlich erhabenen und erhebenden, nicht die privaten und auch nicht die, die es Ihnen gestatten, lodernd und brennend Ihre wertvollen Beiträge zum großen Ganzen in Beruf(ung) und Privatleben zu leisten. Leben Sie Ihre Leidenschaft! Worin auch immer sie zum Ausdruck kommen mag. Und umgeben Sie sich mit leidenschaftlichen Menschen. Hat nicht der grenzgenialische Visionär, Seriengründer und Multimilliardär Elon Musk folgenden Satz in die Welt gesetzt: „Ein Unternehmen ist nur so gut, wie seine Mitarbeiter und ihre Passion dafür, etwas zu erschaffen.“ Seither millionenfach wiedergegeben auf visionsgewissen Websites und Social-Media-Profilen von Unternehmen aller Branchen, vornehmlich solchen, die in der Personalvermittlung und im Recruiting tätig sind, logisch: Leidenschaft.
Leidenschaften, wohin das Auge reicht. Alles ist möglich. Die universelle Lust auf Leidenschaft – eine Flamme, die nach Belieben brennen und nie verlöschen soll. Nicht erst seit gestern und vorgestern sind die Trennlinien zu den grenzwertigen, den pathologischen, den Borderline- und Missbrauchs-Nachbargemeinden der Leidenschaft allerdings verschwommen, werden verwischt, lassen sich fast nach Belieben verschieben. Der Begriff gibt viel her. Wie weit ist der Weg vom selbst auferlegten Dauerleidenschaftspostulat zum Burn-out? Wie stark sind die Frontlinien zum Stockholm-Syndrom befestigt? Wie oft verkommt Leidenschaft zur Begriffshülle von Sonntagsreden? Wann wird aus Leidenschaft Wahn? Und ganz pragmatisch: Steht der Ertrag in einem angemessenen Verhältnis zum kollektiven Postulat der Hingabe?
Treten wir noch einmal hinter die multifunktionale Fassade einer zur Allerweltsattitüde „aufgewerteten“ und mittlerweile inflationär breitgedrückten Begrifflichkeit zurück – zurück zu den Wurzeln des Worts. Passion, Leidenschaft, Hingabe. Lassen wir die Begeisterung beiseite. Für sie finden wir an der Wortwurzel keine Evidenz. Was bleibt, ist Leiden. Das Affix „-schaft“ bezeichnet in Wortbildungen mit Substantiven eine Sache als Ergebnis eines Tuns. Also, ja, wir tun etwas, was (auch) Leiden schafft. Der „toxische“ Anteil der Leidenschaft. Das muss man im Speziellen schon mögen. Zum Beispiel: Unternehmer*in sein. Das ist kein Honiglecken; das ist Leidenschaft.