Von der Leichtigkeit des Seins

Man muss nicht besonders alt sein, um nur allzu gern an Zeiten zurückzudenken, in denen die Welt noch in Ordnung war.

An Zeiten der Unschuld, als viele Themen und Probleme noch gar nicht existierten. Als das Leben noch viel einfacher war und wir Muße im Übermaß hatten. Als wir offenen Meinungsaustausch am Wirtshaustisch pflegten, anstatt uns den Alltagsfrust in digitalen Räumen gegenseitig um die Ohren zu hauen. Als man nicht jedes Wort auf die Waagschale legen musste und Fehler noch normal waren. Aber war es damals wirklich so viel angenehmer? Was davon ist nostalgische Verklärung?

Wir haben in den letzten Jahrzehnten immense gesellschaftliche Fortschritte gemacht. Alle seriösen Daten zeigen, dass es der Menschheit in ihrer Gesamtheit immer besser geht. Die Lebenserwartung ist ebenso gestiegen wie die Alphabetisierungsrate, Armut und Hunger wurden reduziert, die Chancengleichheit wächst, wenn auch zaghaft. Und doch sprechen und lesen wir von nichts anderem als Krisen, Kriegen, Korruption. Die Zeit ist aus den Fugen, wie es bei Shakespeare heißt, und viele Menschen sehnen eine Veränderung herbei. Die einen wollen Beruhigung und ein Lebensgefühl, „wie es früher einmal war“, die anderen predigen Revolution und Disruption, ein Modebegriff, den vor allem digitale Nerds und selbsternannte Wirtschaftsvisionäre gern in den Mund nehmen.

Wir sollen alles über den Haufen werfen, altes Denken und überkommene Techniken beiseitelegen und völlig neue Muster und Strukturen kreieren. Klingt modern und progressiv – steigert aber auch die Dramatik. Die ständige Botschaft ist: sofort alles anders machen, sonst ist es aus. Alles, was bisher war, ist falsch. Wir waren Idioten, jetzt sind wir klug. Wer nicht mitzieht, ist von gestern. Wer nicht für uns ist, ist gegen uns.

Hauptsache Polarisierung. Schwarz und Weiß. Nur keine Zwischentöne. Entspricht das noch der menschlichen Natur, die immer stolz auf ihre Facetten und Vielschichtigkeit war? Man kann das Ruder herumreißen, man kann aber auch eine Kursänderung durchführen, ohne dass es die Menschen in die Ecke schleudert. Die eine Möglichkeit ist, die Dystopie zur dominanten Erzählform zu machen, die andere wäre, Utopien zu entwerfen, die Resignation, Pessimismus und Fatalismus hinter sich lassen.

Ideen und Visionen, die durchaus den Mut zur Veränderung in sich tragen, aber nicht permanent von der Behauptung ausgehen, wir befinden uns nur noch auf einem Scherbenhaufen. Projekte und Initiativen, die zeigen, wie Menschen sich für mehr Demokratie, Solidarität und Nachhaltigkeit einsetzen. Gestalterische Ansätze, die Alternativen aufzeigen oder auch bewährte, aber vergessene Techniken wiederbeleben. Beispiele dafür gibt es zuhauf, vor allem im kulturellen Bereich – und besonders häufig im ländlichen Umfeld.

In der Architekturszene etwa macht sich ein Denken breit, das stark vom Hinterfragen der eigenen Branche geprägt ist: vermeiden von weiterer Bodenversiegelung. Rückbauten von Straßen und großen Flächen. Begrünung von Ortskernen. Neubauten nur noch da, wo es unbedingt nötig ist. Stattdessen Nutzung vorhandener Bausubtanz, kluge Verbindungen von neuen und historischen Gebäudeteilen, Veränderungen von Gebäudefunktionen. Eine alte Seifenfabrik kann durchaus ein chices Boutiquehotel werden, ohne dass man einen Neubau auf die grüne Wiese stellen muss. Und nicht zuletzt schafft die Architektur Begegnungsräume und damit sozialen Raum, der wiederum zum Nachdenken über weitere Maßnahmen zur Förderung der Dorfgemeinschaft genutzt werden kann.

Da gibt es zahlreiche bemerkenswerte Ansätze, die das Berufsbild der Architektinnen und Architekten erheblich erweitern. Der Baukünstler wird vermehrt zum Sozialforscher und zum politischen Gestalter. In Zukunftswerkstätten werden Utopien entwickelt, die uns ermutigen und inspirieren, alternative Möglichkeiten zu denken und zu gestalten. Etwa wie man der Landflucht begegnet, wie man jungen Menschen neue Chancen bereitet, um in ihrem Dorf zu bleiben und ein gutes Leben zu führen. Arbeit und Abwechslung zu finden. Hier kommt auch die Kunst ins Spiel. Unzählige zumeist idealistisch betriebene Kulturinitiativen bringen Leben in die Dörfer, veranstalten Konzerte und Filmabende, Lesungen und Diskussionen, die beflügeln und anregen. Junge Menschen werden mit neuen Themen und Sichtweisen konfrontiert, mit Gedanken, die stimulieren und Mut machen.

Man kann dabei lernen, dass Menschen sich auch im realen Leben austauschen können und nicht nur im Chatroom, wo im Schutz der Anonymität sehr rasch die Grobheiten hin und her fliegen. Kommunikation wird leider in den Schulen nicht gelehrt und gerät im digitalen Raum oft zum Schlachtfeld festgefahrener Meinungen. Umso wichtiger ist die Pflege einer Gesprächskultur in der leibhaftigen Begegnung von Menschen unterschiedlicher Generationen. Das fördert die Fähigkeit des Zuhörens und Lernens ebenso wie den Respekt gegenüber anderen Meinungen. Das mag selbstverständlich oder gar priesterhaft klingen, verweist aber auf ein eklatantes Manko einer durch Krisen und Isolation geschädigten Gesellschaft. Viele positive Ansätze zu diesen Themen finden sich auch im Programm der europäischen Kulturhauptstadt. Bad Ischl und die umliegenden Gemeinden setzen weniger auf Behübschung und kurzfristigen Klimbim als auf nachhaltige Initiativen, die der Region Salzkammergut authentisches Leben abseits des Tourismus zurückbringen sollen.

Man zerbricht sich den Kopf und entwickelt Konzepte gegen Leerstände in Ortskernen und gegen das grassierende Wirtshaussterben. Wenn man gesehen hat, mit welcher Leidenschaft der bekannte Koch Christoph „Krauli“ Held in einer aufgelassenen und kurzfristig wiederbelebten Bahnhofsrestauration junge Menschen für die Gastronomie begeistert, bekommt man Tränen in den Augen und neue Hoffnung für die Zukunft. Im Handwerkhaus in Bad Goisern zeigen engagierte Kulturarbeiter auf eindrückliche Weise, wie wichtig handwerkliche Traditionen für die Identität einer Region sind – und wie man mit künstlerischen Interventionen eben dieses Handwerk zu neuen Höhenflügen ansetzen lässt. Und auf der steirischen Seite, am Grundlsee, lehrt man Nachwuchskräfte überlieferte Techniken im Umgang mit Kalk und Mörtel bei der Restaurierung historischer Bauwerke. Die Dinge sind oft gar nicht so kompliziert, nur wissen und annehmen muss man sie: lernen aus der Vergangenheit, um die Zukunft zu gestalten.

Das alles spricht für einen vernünftigen Umgang mit Veränderung und Entwicklung, für das Aufbauen auf Vorhandenem, für das Einbeziehen von möglichst viel Wissen anstelle des Ausradierens, für Evolution statt Revolution. Selbst wenn die Wiener Festwochen gerade die Freie Republik Wien ausrufen, wirken ihre Appelle zur Revolution auf rührende Weise nostalgisch, indem sie auf Inszenierungen und Ausdrucksformen setzen, die frappant den Liedern und Parolen des ausgehenden 20. Jahrhunderts ähneln.

Da werden Erinnerungen wach und Emotionen geschürt, die nichts mit der Schwere der Geschichte zu tun haben, sondern mit der Freude der Erfahrung und der Vielfarbigkeit von Kultur. Selbst bei der Biennale von Venedig, die schon im Vorfeld politisch aufgeladen und ideologisch belastet wie noch nie war, ging es nicht nur um die Krisen dieser Welt. Trotz des resignativ anmutenden Titels „Fremde überall“ versuchten viele Künstlerinnen und Künstler positive und konstruktive Ansätze zu finden.

Natürlich wurden Kolonialisierung, Ausbeutung, Migration und Ungleichgewicht thematisiert, aber besonders faszinierend waren jene Exponate, die nicht auf bloßen Aktionismus gesetzt haben, sondern auf subtile, künstlerische Mittel – ohne dabei unkritisch zu werden. Letztlich geht es in der Kunst immer um überzeugende ästhetische Konzepte, Einfallsreichtum, Originalität und Qualität in der Umsetzung, damit unsere inneren Seiten zum Klingen gebracht werden. Selbst Schönheit darf dabei wieder ein Kriterium sein.

Wahrscheinlich sollten wir uns die Kunst viel öfter zum Vorbild nehmen, um die Herausforderungen der Gesellschaft in den Griff zu bekommen. Die Kunst ist kein Allheilmittel, aber sie schafft Visionen und schärft die Sinne, sie ermöglicht ungewohnte Blickwinkel und zeigt neue Wege auf, sie macht die Fäden zwischen Individuum und Gemeinschaft sichtbar. Und sie lässt uns immer wieder – trotz Tiefgang und Engagement – die Leichtigkeit des Seins spüren, die uns allen so schmerzlich abhandengekommen ist.

Wir müssen sie uns zurückholen. Wir müssen einen neuen Optimismus entwickeln, eine konstruktive Herangehensweise, die sich von Ordnungsrufen und Besserwisserei nicht beirren lässt. Einen Hang zur Utopie mit Mut zu Naivität und unkonventionellem Denken, verantwortungsvoll vorausblickend, aber auch mit der Fähigkeit, den Moment zu genießen. Das dürfen wir nämlich auch noch. Das Leben ist kurz genug.

 

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